Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, promovierte 1956 über die „Universitäts-Selbstverwaltung“ zum Dr. jur., einem Thema, das bald darauf politisch brisant wurde. Er wurde juristischer Berater des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und sehr bald Vertrauter von T.W. Adorno. Anfang der 60er Jahre wurde K. gleichzeitig als Schriftsteller und Filmemacher bekannt: 1962 liest er bei der Gruppe 47 aus dem Band Lebensläufe und veröffentlicht zusammen mit 25 jungen Filmern das Oberhausener Manifest, 1966 erhält er als erster Deutscher nach dem Krieg den Silbernen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig für Abschied von Gestern mit Alexandra Kluge in der Hauptrolle. Damit öffnet sich in Europa eine Tür für den Neuen Deutschen Film, als dessen spiritus rector man Kluge bezeichnen darf, insofern er seine ganze Kraft einsetzt, diese Individualisten des Kinos zusammenzuhalten und institutionelle, finanzielle Absicherungen für einen deutschen Autorenfilm herzustellen (Gründung des Ulmer Instituts für Filmgestaltung 1962, Rahmenabkommen Film / Fernsehen 1974). Es geht, wie Kluge als Kritischer Theoretiker weiß, niemals nur um das Gelingen einzelner Werke, sondern nötig ist die Herstellung einer authentischen Öffentlichkeit, einer stabilen Verbindung mit dem Publikum, und das können einzelne nicht alleine.
Bis Mitte der achtziger Jahre veröffentlicht Kluge 14 abendfüllende Spielfilme (die immer auch dokumentarisches Material enthalten), schreibt vier Bände Geschichten und setzt zusammen mit Oskar Negt die Kritische Theorie philosophisch-soziologisch fort. Nach der Aufkündigung der Filmförderung durch die konservative Regierung führt Kluge das Konzept der Politik der Autoren ab 1988 in sog. Kulturfenstern im Privatfernsehen fort (RTL, SAT 1, VOX sowie dem Schweizer Fernsehen). In knapp 20 Jahren entstehen ca. 1500 Stunden Sendezeit aus Gesprächen mit Künstlern, Wissenschaftlern, Musikern, Filmern, Schriftstellern, Politikern, aber auch mit neuen TV-Formaten wie Musikmagazinen, Bildern ohne Worte oder der bekannten Reihe Facts & Fakes.
Zu Beginn des neuen Jahrhunderts meldet er sich auch wieder als literarischer Autor mit mehreren umfangreichen Erzählungsbänden zurück (Bremer Literaturpreis zum zweiten Mal 2001, Büchner Preis 2003). Wenn Kluge sich literarisch, in Bildern und wissenschaftlich in Begriffen äußert, so handelt es sich weder um verschiedene Themen, schon gar nicht um verschiedene Ziele, sondern um unterschiedliche Ausdrucksformen ein- und derselben Sache: der authentischen Vermittlung von Erfahrungen in einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der starke Kräfte auf Verschüttung und Entwertung von Erfahrung gerichtet sind. (RS)
Biografie
Alexander Kluge, ev., wurde am 14. Febr. 1932 in Halberstadt als Sohn eines Arztes geboren.
Er besuchte in Halberstadt das Domgymnasium und ein Gymnasium in Berlin-Charlottenburg. Nach dem Abitur in Berlin studierte er Rechtswissenschaften, Geschichte und Kirchenmusik in Marburg und Frankfurt/Main (u. a. bei Theodor Adorno). Mit der Dissertation „Die Universitätsselbstverwaltung“ promovierte er 1956 zum Dr. jur.
Nach dem Assessorexamen 1958 wurde K. in Berlin und München als Rechtsanwalt tätig. Schon bald wandte er sich dem Film und seiner schriftstellerischen Arbeit zu. Zeitweise lehrte er als Professor an der Hochschule für Gestaltung in Ulm (Abteilung für Filmgestaltung), später als Honorarprofessor an der Universität Frankfurt/Main.
Als Assistent von Fritz Lang kam K. 1958 zum Film. Er drehte seit 1960 als Regisseur und Produzent Kurzfilme, darunter – gemeinsam mit Peter Schamoni – „Brutalität in Stein“ (1959), ein Dokumentarfilm über nationalsozialistische Architektur. 1962 war K. Mitinitiator des als Abkehr vom alten deutschen Film formulierten „Oberhausener Manifestes“. Er übernahm im selben Jahr zusammen mit Edgar Reitz und Detten Schleiermacher die Leitung des „Instituts für Filmgestaltung“ an der Hochschule für Gestaltung in Ulm. 1963 gründete K. eine eigene Produktionsfirma, „Kairos-Film“. Mit seinem ersten, auch international erfolgreichen und ausgezeichneten Spielfilm, „Abschied von gestern“ (1966), gab K. nach Kritikermeinung als Vordenker des Autorenkinos der Bewegung des Neuen Deutschen Films ein Motto und ein Meisterwerk. Vielbeachtet folgten u. a. „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ (1968; nach eigenem Buch), die Science-fiction-Filme (1970/71) „Der große Verhau“ (2 Fassungen) sowie „Willi Tobler und der Untergang der 6. Flotte“ (Neufassung 1979: „Zu böser Schlacht schleich‘ ich heut nacht so bang“). Nach dem essayistischen Film „Gelegenheitsarbeit einer Sklavin“ (1973), dem in Zusammenarbeit mit Edgar Reitz entstandenen Spielfilm „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod“ (1974) und einem Abstecher ins erzählende Kino – „Der starke Ferdinand“ (1975; Neufassung 1977) – kehrte K. zu seiner „tiefschürfenden, totalen Analyse- und Assoziationstechnik“ zurück, wie die Süddeutsche Zeitung feststellte. Zunehmend an der Zusammenarbeit mit anderen Regisseuren und an Kollektivprojekten interessiert, beteiligte sich K. in der Folge an Filmen wie „Deutschland im Herbst“ (1978), „Der Kandidat“ (1980; über Franz Josef Strauß) und „Krieg und Frieden“ (1982/83; über die Raketenkrise von 1982).
In den achtziger Jahren drehte K. die zwei großen Essayfilme, „Die Macht der Gefühle“ (1983; ZDF, 1985) und „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ (1985; ZDF, 1988), die – wie auch die vorausgegangene Arbeit „Die Patriotin“ (1979) – aus inszenierten und dokumentarischen Mosaiksteinchen zusammengesetzt wurden und den Zuschauer zu Assoziationen und Interpretationen provozieren sollten. Suchte K. in „Macht der Gefühle“ seine These zu belegen, daß in uns, den Gefühlen, eine Revolutionierung stattfinde, so breitete er im zweiten Essayfilm seine Gedanken zum Zustand unserer Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts aus. In seinem kleinen 29. Film, „Vermischte Nachrichten“ (1986), verdichteten sich die Ereignisse im Jahr der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl (1986) nach Ansicht der Fachkritik zu „einem Kulturessay voll ziemlich schwarzem Pessimismus“.
K.s Arbeiten wurden als „Rätsel-Kino“ (ZEIT) und „Aufklärungsarbeit für Aufgeklärte, die auf ihre Weise unterhalten sein wollen“ (Stgt. Z.), mitunter harsch gescholten. Öffentliches Lob fand dagegen sein Engagement für die Filmkunst: U. a. war K. einer der wichtigsten Initiatoren der deutschen Filmförderung seit 1962, die 1974 gesetzlich verankert wurde, und er setzte für das Kino die enge Zusammenarbeit mit dem Fernsehen durch. Praktisch alle K.-Filme entstanden mit Unterstützung des Fernsehens und der Fördergremien. Und obgleich K. aus Protest gegen die Praxis der Filmförderung seit 1974 („verkappte Zensur“) im Mai 1977 aus dem Präsidium und zwei weiteren Kommissionen der Filmförderungsanstalt (FFA) ausschied, blieb er in der Filmpolitik aktiv. Er zählte 1980zu den Mitbegründern der neuen „Bundesvereinigung des Deutschen Films“, die aus Protest gegen „falsche Mehrheitsverhältnisse bei den bestehenden Filmorganisationen“ ins Leben gerufen wurde.
Zwischen seinen Filmen publizierte K., der erstmals 1961 als Koautor des Buches „Kulturpolitik und Ausgabenkontrolle“ literarisch hervorgetrat, Romane (1964; „Schlachtbeschreibung“), Erzählungen (1973; „Lernprozesse mit tödlichem Ausgang“; 1978; „Unheimlichkeit der Zeit. Neue Geschichten 1-18“) und Essays. Zusammen mit dem Soziologen Oskar Negt schrieb K. über „Öffentlichkeit und Erfahrung“ (1973), „Geschichte und Eigensinn“ (1981) und über „Maßverhältnisse des Politischen“ (1992). Hier ging das vielgelobte Autorenteam in 15 Variationen verschiedenster Art der Frage nach, was am politischen Handeln politisch ist. Als Medientheoretiker wies sich K. mit diversen Filmtexten, einem programmatischen Essay („Gelegenheitsarbeit einer Sklavin“; 1975) und der „Bestandsaufnahme – Utopie Film“ (1983) aus.
Seine Idee des „Herausgeber-Fernsehens“ setzte K. mit der Gründung der Produktionsfirma DCTP (Development Company for Television Programs) um. Zusammen mit 143 Anbietern aus der deutschen Theater-, Film- und Verlagsbranche hatte er 1985 zunächst die „Arbeitsgemeinschaft Kabel und Satellit“ (AKS) ins Leben gerufen, bis er sich dann kurze Zeit später mit der japanischen Werbeagentur „Dentsu“ und dem Hamburger SPIEGEL-Verlag zu dem joint-venture-Unternehmen DCTP zusammenschloß. Ab Mai 1988 sendete die mit einer eigenen nordrhein-westfälischen Sendelizenz ausgestattete DCTP, deren Geschäftsführer K. ist, ihr unabhängiges Programm auf RTL und SAT.1. Zu diesen Programmen gehören SPIEGEL TV MAGAZIN, STERN TV und die K.-eigenen Kulturmagazine „Prime Time/Spätausgabe“ und „10 vor 11/Ten to Eleven“ bei RTL und seit Juli 1988 bei SAT.1 ?News & Stories? und SPIEGEL TV REPORTAGE. Seit Jan. 1993 verantwortete K. mit seiner DCTP auch Sendungen beim neu gestarteten, privaten Sender Vox, an dem sich die DCTP mit 11,5 Prozent beteiligte (ab 1996: 0,3 %). Der Sender in Köln-Ossendorf mit dem „informationsorientierten Vollprogramm“ geriet rasch in eine Krise. Im März 1994 kündigten die Anteileigner, darunter auch die Bertelsmann AG, ihr Engagement zum Ende des Monats auf. Ende April 1994 übernahm K.s Produktionsfirma, die auch eine Sendelizenz für die Vox-Frequenzen hat, die Federführung und führte den angeschlagenen Privatsender mit einem Notprogramm aus der Krise.
Da K.s Kultursendungen bei RTL, Sat.1 oder Vox auf eine quotenträchtige Bildsprache keine Rücksicht nehmen, gab es immer wieder Bestrebungen seitens der Privatsender, die Rechte der unabhängigen „Fensterprogramme“ zu beschneiden. RTL-Programmchef Helmut Thoma bewertete K. als „einen Quotenkiller“ und „elektronischen Wegelagerer“ und seine Kulturmagazine im Privatfernsehen als „Zwölftonmusik im Zirkus“ (vgl. WELT, 9.9.1996). Im Jan. 1998 meldete die Neue Zürcher Zeitung (16.1.1998), daß die BBC mit einer Folge von sieben Reportagen und Dokumentationen die Zusammenarbeit mit K.s DCTP begründete, die – erstmals in deutscher Sprache – auf den Sendeplätzen von K.s DCTP im Vox-Programm ausgestrahlt werden.
Veröffentlichungen u. a.: „Kulturpolitik und Ausgabenkontrolle“ (61; m. Hellmut Becker), „Lebensläufe“ (62; überarb. 85), „Schlachtbeschreibung – Der Untergang der 6. Armee“ (64; überarb. 83), „Lernprozesse mit tödlichem Ausgang“ (73), „Öffentlichkeit und Erfahrung“ (73; m. Oskar Negt), „Filmwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland und Europa“ (73), „Kritische Theorie und Marxismus“ (74; m. O. Negt), „Gelegenheitsarbeit einer Sklavin“ (75), „Unheimlichkeit der Zeit. Neue Geschichten 1-18“ (78), „Die Patriotin“ (79), „Geschichte und Eigensinn“ (81; m. O. Negt), „Bestandsaufnahme – Utopie Film“ (83), „Macht der Gefühle“ (84), „Ulmer Dramaturgien – Reibungsverluste“ (85; m. Klaus Eder), „Theodor Fontane, Heinrich von Kleist und Anna Wilde – Zur Grammatik der Zeit“ (87), „Die Zukunft der Aufklärung“ (88; m. and.), „Maßverhältnisse des Politischen“ (92; m. O. Negt). „Ich schulde der Welt einen Toten“ (95; mit Heiner Müller), „Die Wächter des Sarkophags. 10 Jahre Tschernobyl“ (96), „Ich bin ein Landvermesser“(96).
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Filme u. a.: „Brutalität in Stein“ (59),“Lehrer im Wandel“ (63), „Porträt einer Bewährung“ (65); „Abschied von gestern“ (Anita G., 66), „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ (68), „Der große Verhau“ (70), „Willi Tobler und der Untergang der 6. Flotte“ (71), „Gelegenheitsarbeit einer Sklavin“ (73), „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod (74), „Der starke Ferdinand“ 75, „Deutschland im Herbst“ (78; mit anderen), „Nachrichten von den Staufern“ (78), „Die Patriotin“ (79), „Der Kandidat“ (80; mit anderen), „Krieg und Frieden“ (83; mit anderen), „Die Macht der Gefühle“ (83), „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ (85), „Vermischte Nachrichten“ (86).
Filmpreise u. a.: Filmband in Gold (66; 69; 75; 78), Silberner Löwe (66), Goldener Löwe von San Marco (69), 1. Preis Oberhausener Kurzfilmtage (69), Filmband in Silber (79; 86), FIPRESCI-Preis (81, IFF Cannes; 83, IFF Venedig), Adolf-Grimme-Preis in Silber (90; für Interview mit dem Bankier Graf Galen „Die letzten Tage der Krise“), in Gold (92; für die umstrittene Sendung „Das goldene Vlies“)
Preise für literarisches Werk u. a.: Berliner Kunstpreis „Junge Generation“ (64), Bayerischer Staatspreis für Literatur (66), Italalienischer Literaturpreis Isola d’Elba (67), Fontane-Preis, Berlin (79), Großer Bremer Literaturpreis (79), Kleist-Preis (85), Kultureller Ehrenpreis der Stadt München (86), Lessing-Preis (90), Heimrich-Böll-Preis (93), Ricarda-Huch-Preis (96), Schiller-Preis (01), Lessing-Preis für Kritik (02), Georg-Büchner-Preis (03).
K. ist Mitglied des PEN-Zentrums, der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg (seit 72), der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt (seit 82), und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (seit 94).
K. ist seit 1982 mit Dagmar Steurer verheiratet und hat eine Tochter (geb. 1983) und einen Sohn (geb. 1985).