Eröffnung Theatertreffen 2014 mit Alexander Kluge:
3 Filme und einige Bemerkungen zu Heiner Müller und Dimiter Gotscheff
Meine Damen und Herren,
ich kann das immer noch nicht fassen, daß im kommenden Jahr Heiner Müller zwanzig Jahre tot sein wird. Mit Dimiter Gotscheff hatte ich für das Stück Zement ein Fernsehgespräch vereinbart. Da ist auch er gestorben. Das ist der Grund für diese drei kurzen Filmstücke mit Heiner Müller und Dimiter Gotscheff, die Sie eben gesehen haben. Mir liegt daran, daß diese beiden Eideshelfer hier im Saal sind. Dazu muß man ihre Stimmen hören. Wenn die Solidarität unter den Lebenden Risse aufweist, heißt es bei Heiner Müller, dann sind wir angewiesen auf die Solidarität der Toten. Wir brauchen die Stimme von Heiner Müller, die zögerliche und doch eindringliche, und auch die rauhe Gegenstimme von Dimiter Gotscheff heute und hier.
Es geht um Theater. Ich bin dem Theater erstmals als Vierjähriger begegnet, im Theater meiner Heimatstadt Halberstadt. Aus dem immerhin Gustaf Gründgens stammt, das einen Wagner-Schwerpunkt hatte. Es handelte sich damals um ein Weihnachtsmärchen. Ich saß als Sohn des Theaterarztes ziemlich weit vorne und war den Schauspielern bekannt. Mitten im Stück sprach mich einer der Schauspieler direkt an, ob ich auch richtig zuhöre. Ich hatte nie wieder so rote Ohren. Das ist unmittelbare Öffentlichkeit. Ein Publikum und eine Bühne in direkter Berührung. Dieses Theater Halberstadt ist vor 69 Jahren abgebrannt nach einem Bombenangriff. Das Volkstheater Halberstadt, sein Nachfolger, schlug sich durch die Zeiten. Heute existiert immer noch ein Drei-Sparten-Theater des Nordharzer Städtebundes, in das sich Quedlinburg, die Lutherstadt Eisleben und Halberstadt teilen. Solche Theater kämpfen heute um ihre Existenz. Ich bin aber sicher, daß es ohne Theater keine städtische Öffentlichkeit, auch keine klassische Öffentlichkeit gibt, die diesen Namen verdient. Wir haben guten Grund deshalb über Aktualität und Funktion des Theaters in einer lebendigen Öffentlichkeit unseres Landes nachzudenken. Es gab im Zeitalter der Aufklärung Theater, die waren so wichtig wie Parlamente.
Der Kokon der Aktualität, in dem wir uns gemeinsam mit den Medien und der Tagespolitik einspinnen, ist nicht ein Bild unserer realen Gegenwart. Sie ist ein Kokon, eine Abwehr gegen das Zuviel an Realität, eine Täuschung. Die Nachrichtenfolge hat einen rasanten Fluß. Eben noch Fukushima, dann die Affäre Wulff oder das Problem einer Dissertation, bei der abgeschrieben wurde. Es folgt der Syrien-Konflikt. 100 Jahre Erster Weltkrieg. Die Libanon-Krise, die Ukraine-Krise. Das ist Information, aber kein Bild der Gegenwart.
Ich behaupte nicht, daß das Theater hierzu bereits die Gegenöffentlichkeit bildet. Aber das Theater, wenn es gelingt, hat einen anderen Erzählfluß. Der Ort, an dem das Stück, das Sie gleich sehen werden, spielt, liegt am Schwarzen Meer. Vermutlich im südlichen Teil, im Industriegürtel der Ukraine. Es geht um einen Heimkehrer. Einen wie Odysseus, aber auch einen, der aus dem Bürgerkrieg heimkehrt. Seine Partei, die der gesellschaftlichen Veränderung, der Revolution, hat gesiegt. Der Sieger kommt nach Hause und sieht alles verloren. Seine Ehe und die Zementfabrik sind verwüstet. Alle handelnden Personen des Dramas kämpfen erneut, jetzt an der Produktionsfront. Während sie noch alles Leben, das sie haben, einsetzen, brutale Widersprüche zu ihrem spontanen Gefühl in Kauf nehmen, ist eine neue politische Wetterfront über ihre Köpfe hinweggekommen. Die neue ökonomische Politik und die aufkommende gewaltsame Bürokratie. Enteignung. Geschichtsverlust. Trauerarbeit. Wir waren die ersten Zuschauer der Geschichte. Dann waren wir Produzenten unseres Lebens. Und jetzt sind wir Zuschauer unseres Unglücks. Das soll uns nicht zweimal passieren. Wo anders als auf dem Theater kann man eine solche Blaupause auf die aktuellen Geschehnisse in der Ukraine heute ansehen, in der Menschen, aufgerissen, zerrissen und zu Zuschauern eines kollektiven Unglücks gemacht werden, das keiner beherrscht. Nicht die, die außen zündeln und nicht die, die inmitten leben und kämpfen.
In dem Stück, das Sie nachher sehen, sind alle Abgründe einer Gegenwart geöffnet – bis zu Medea (auch eine vom Schwarzen Meer), bis zu Herakles, Prometheus und den Sieben von Theben hin. Aber auch zu einem verlorengegangenen Prozeß der Revolution, der einzige, der eine Antwort auf die Katastrophe von 1914/18 versucht hat. Alles dies zusammen ist wirklich. Die bloße Information über eine aktuelle Einzelheit ist unwirklich. Das macht das Theater zu einem natürlichen Ort, an dem Trauerarbeit stattfinden kann, an dem wir unsere Fähigkeiten der Einfühlung auch sortieren können für Auswege und Neuanfang. Heiner Müller erklärt das Theater für ein weltliches Requiem: die Toten begraben, die Toten auferwecken, wenn sie uns schützen und helfen sollen. Eigentlich ist das Oper. Sie liegt auch jedem Sprechtheater in positivster Weise zugrunde, solange es die menschliche Stimme gibt.
Ich hätte diese beiden, Heiner Müller und Dimiter Gotscheff, heute gerne bei uns. 97 Jahre nach 1917, 100 Jahre nach 1914. Sie müssen neue Stücke schreiben und inszenieren. Große Massen an Stoff warten. Ich danke für Ihre Geduld.