Gespräche mit Heiner Müller

Alexander Kluge hat im Zeitraum von 1990 bis 1995 etwaige Gespräche mit Heiner Müller geführt. Diese liefen im Fernsehen als Kulturmagazine der dctp: 10vor11, News & Stories und Primetime.

► „Darwin und die Panzerwaffe“ (10 vor 11 vom 01.10.1990)

Die ersten Panzer, die 1915 auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs erschienen, heißen „Little Willi“ und „Mother“. Sie wussten noch nicht, ob sie Traktoren, fahrbare Artillerie oder schnelle Fahrzeuge sein sollten. In wenigen Jahrzehnten hatte dann diese Waffengattung eine brillante Evolution, die Charles Darwin, der über die Entwicklung der Arten schrieb, in Erstaunen versetzt hätte. Panzerwagen waren die Instrumente des Blitzkriegs und sind noch heute als irakische Drohung schrecklich. Je größer sie aber werden, desto mehr zeigen sie sich als „Särge aus Eisen“. Heiner Müller beschreibt sie als „Fortsetzung des Seelenlebens mit anderen Mitteln“.

Ein Bilder- und Musikmagazin über Blitzkriege und Panzerwaffen mit Kommentaren von Heiner Müller.


► Heiner Müller über Rechtsfragen (10 vor 11 vom 22.10.1990)

Zum Kleist-Preis 1990

Dass Heinrich von Kleist Jurist war, merkt man an vielen seiner Erzählungen, die um dramatische Rechtsfragen kreisen. Auch Shakespeare und Homer befassen sich mit Rechtsfragen. Heiner Müller, der Träger des Kleist-Preises von 1990, ist der Meinung, dass seine Dramen im wesentlichen Rechtsfragen enthalten. Er analysiert an Beispielen von Kleist, Shakespeare und an eigenen Stücken. Jedenfalls ist sein „Kampf ums Recht“ sein inneres Motiv. Ein Gespräch mit Heiner Müller.


► „Jede gefrorene Struktur hat ihre Akademie“ (10 vor 11 vom 10.06.1991)

Seit einiger Zeit amtiert der Dramatiker Heiner Müller als Präsident der Deutschen Akademie der Künste in Berlin-Ost. Die Akademie ist durch Abwicklung bedroht. Es handelt sich um die berühmte, ehemals preußische Akademie, die auch diejenige der Emigranten war, die 1933 auswanderten – Heinrich Mann, ihr erster Präsident.

Heiner Müller über Friedrich II. von Preußen und die Glanzzeit der Akademie im 17. Jahrhundert. Sein Tageslauf als Präsident. Seine Gedanken hierzu: „Jede gefrorene Struktur hat ihre Akademie.“


► „Geist, Macht, Kastration“ (10 vor 11 vom 08.03.1993)

Als Bert Brecht aus dem Westen kommend in die DDR einzog, gab er in Leipzig eine Pressekonferenz. Dort teilte er mit: „Theater ist die wissenschaftliche Organisation von Skandalen“. Damit war er am rechten Platz. Trotzdem versuchte er im Berliner Ensemble dieses Prinzip des Dramaturgischen durchzusetzen. Der Hofmeister, Prototyp eines Lehrers und Geistesmenschen im Zeitalter der Aufklärung, kastriert sich im Widerstreit zwischen Pflicht und sexuellem Trieb auf offener Bühne. Die Partei missbilligt die Aussage nachhaltig.

Heiner Müller über Bert Brecht und die Zukunft des Berliner Ensembles


► „Pflugschar des Bösen“ (PRIMETIME vom 04.04.1993)

Entgegen der Annahme vieler Humanisten, ist es die Funktion der Intelligenz, Chaos zu verbreiten. Heiner Müller über die korrekte Funktion des Intellektuellen.


► Anti-Oper / Materialschlacht von 1914 / Flug über Sibirien (News & Stories vom 06.12.1993)

Heiner Müller hat Japan besucht. Auf einem Kongress ging es dort um die Form der Oper an der Schwelle zum 21. Jahrhundert.

Heiner Müller vertritt keine museale Erhaltung des Opernbetriebs, sondern eine Entzerrung der Oper, bei der er an die Traditionen des Bunraku-Theaters in Japan anknüpft. Sänger, Geräusche, Drama, Musik und Opernmaschinerie gehören entzerrt. Gemeinsam bilden sie kein Gesamtkunstwerk, wohl aber eine Fülle interessanter Ruinen. Zur gleichen Zeit inszeniert Heiner Müller das sog. Fatzer-Fragment von Bert Brecht. Dies ist einer der rätselhaften Texte, die Brecht schrieb und nie fertigstellte.

Es geht um den Erfahrungsgehalt der Materialschlachten von 1914, einen inneren Terrorismus in den Menschen, der für Deutschlands Schicksal im 20. Jahrhundert entscheidend ist: Der Krieg von 1914 bis 1918 ist bis heute weder verarbeitet noch begriffen.

Beim Hin- und Rückflug nach Japan überquerte Heiner Müller zweimal Sibirien. Dies lenkt seine Gedanken auf die Zeitreserve, die in den unendlichen Weiten dieses Kontinents steckt. Ein intensives Gespräch mit den genannten drei Schwerpunkten: Oper oder Anti-Oper? Inwiefern sind die Materialschlachten von 1914 eine Chiffre unseres Jahrhunderts? Wo in der Welt gibt es noch Leerstellen?


► „Ich schulde der Welt einen Toten.“ (10 vor 11 vom 15.08.1994)

Der Dramatiker Heiner Müller erarbeitete ein Opernlibretto für Pierre Boulez. Das Textbuch befasst sich mit dem Vermächtnis der Atriden (Agamemnon, Orest, Elektra, Klytämnestra usf.). Heiner Müller faszinierte dabei die Vorstellung der Balancen zwischen der Totenwelt und der Welt der Lebendigen. Weder ein Toter noch ein Lebender kann nach den Vorstellungen der Antike seinen Platz ohne den Willen der Götter wechseln. Heiner Müller ist in seinem Libretto der Auffassung, dass das Entschwinden der Götter diese festen Grundsätze, auf denen die Welt fußt, keineswegs ändert. Wer sich einen Platz im Leben ermogelt, obwohl er zum Tode bestimmt ist, muss dem Totenreich eine Schuld bezahlen.

Heiner Müller sieht hier die Wurzel des Dramatischen: „Ich schulde der Welt einen Toten“.


► „Die Welt ist nicht schlecht, sondern voll“ (10 vor 11 vom 21.11.1994)

Ein spannendes Gespräch mit Heiner Müller, anknüpfend an die berühmte Äußerung der Totengötter im antiken Griechenland: „Die Welt ist nicht schlecht, sondern voll“.


► „Mein Rendezvous mit dem Tod“ (10 vor 11 vom 20.02.1995)

Heiner Müller beschreibt einen dramatischen Eingriff in sein Leben: die Operation der Speiseröhre. Ein Mensch, der so operiert ist, muss neu lernen, sagt Heiner Müller, wie er leben soll: „Lernen mit halber Maschine“, heißt es in einem der neuen, postoperativen Texte.


► Die Stimme des Dramatikers (News & Stories vom 27.03.1995)

Die neue Stimme des Dramatikers Heiner Müller klingt verkrächzt. Die Texte, um die es in dem Magazin geht, sind im Umkreis einer lebensrettenden Radikaloperation geschrieben. Bei dieser Operation wurde eines der Stimmbänder gelähmt. In den neuen Texten geht es um Ajax und Polydor, um Hitler, Stalin, um Berlin als „unwirkliche Hauptstadt“: In seinen postoperativen Texten zieht Heiner Müller eine Bilanz.

Es ist merkwürdig, dass Heiner Müller bei keinem seiner Auftritte im TV je nach seinen Kompakt-Texten gefragt worden ist. Diese Texte konzentrieren Informationen auf eine unvergleichliche Weise. Sie nutzen die Vielschichtigkeit, die die Worte und Bedeutungen an und für sich bereits haben. So ist Ajax, der Held einer von Müllers neuen Texten, gleichzeitig ein Waschmittel und der Name zweier draufgängerischer Helden, die sich vor Troja in ihr Schwert stürzten. Polydor, heute das Markenzeichen einer Schallplattenfirma, ist der Sohn des unglücklichen Königs Priamos von Troja und seiner Frau Hekuba. Sie versuchen diesen Jüngsten bei einem fremden König in Sicherheit zu bringen. Dieser aber eignet sich die Schätze des Schützlings an und ermordet; zuletzt bellt sie wie ein Hund. Der bemerkenswerte sprachliche Bogen schließt sich mit Recht in der TV-Schallplattenindustrie.

Mit dem renommierten, europäischen Preis für Dramatik, den Heiner Müller in Taormina erhielt und einem Stipendium der Getty-Stiftung, gehört Heiner Müller zu den höchstdekorierten, lebenden Dramatikern.


► Herzkönigin am Jüngsten Tag (10 vor 11 vom 09.10.1995)

Heiner Müller schreibt. Das Gespräch mit ihm findet in seinen Arbeitsräumen statt. Es geht Herzeloide, die Mutter des Helden Parzival. Außerdem um den werktätigen Helden Herkules und über ein besonderes Beispiel für Patriotismus.


► Wer raucht, sieht kaltblütig aus (PRIMETIME vom 21.01.1996)

In dem Gespräch mit Heiner Müller geht es um Tabak und Atem, eine Begegnung mit Rolf Hochhuth, Hitlers halben Schwanz, die erotische Statik von DDR-Hochhäusern, um den Satz „das moralische Gesetz in mir und der gestirnte Himmel über mir“, um Onanie an einer Eiche, um den Generationenvertrag, der heutige Autoren mit denen der Antike verbindet und um die „Tröstung durch Verwandlung“ bei Ovid.

► Heiner Müller im Zeitenflug (News & Stories vom 29.01.1996)

Ovids Metamorphosen handeln von Verwandlungen. Unerbittliche Leiden zwingen Götter und Menschen dazu, ihre Gestalt zu wechseln. Diese Texte, mit denen Ovid auch das bittere Schicksal der geschlagenen Trojaner beschreibt, nennt Heiner Müller „dramatische Stoffe“.

Wie kommt es zu dem eigentümlichen Generationenvertrag, der 2000 Jahre alte Texte aktuell macht?


► Episches Theater und postheroisches Management (News & Stories vom 18.03.1996)

In den letzten Monaten seines Lebens hat sich Heiner Müller intensiv mit einem Buch beschäftigt: Dirk Baecker / POSTHEROISCHES MANAGEMENT. Es geht um die Probleme heutiger Konzerne. Es heißt dort z.B.: „Moderne Organisationen sind Besitzer von Lösungen, die nach Problemen suchen.“ Es heißt auch: „Macht mehr Fehler. Macht sie schneller. Woraus wollt ihr sonst lernen?“ Das alles gefiel Heiner Müller. Er sah in den Organisationsproblemen moderner Konzerne neuartige Rohstoffe für das Epische Theater.

Im Gespräch geht es zugleich um Entwürfe für das Theater im 21. Jahrhundert: Wird es eher dem Zirkus, dem Puff, einer „Montage der Attraktionen“ oder einer Reparaturwerkstatt für nicht fahrbereite Klassiker gleichen?

Ein letztes Gespräch mit Heiner Müller: „Es ist ein Irrtum, daß die Toten tot sind“.


► Der Dichter als Metaphernschleuder DOPPELMAGAZIN (News & Stories vom 16.06.1997)

Die Wortkombinate, an denen man einen Dichter erkennt, nennt man Metaphern (= Gleichnisse, Umschreibungen). Diese Metaphern, sagt der Dramatiker Heiner Müller, haben einen praktischen Zweck. Geschehnisse, die für Menschen unerträglich oder zu schnell sind, können durch den dichterischen Text so umwegreich gemacht werden, dass daraus eine persönliche Erfahrung entstehen kann. Der Dichter funktioniert insofern, sagt Heiner Müller, als Metaphernschleuder.

Das Doppelmagazin von „News & Stories“ bringt 100 Minuten mit Heiner Müller. Es geht um: „Den Rausschmiss aus Verdun“ (mit seinem Freund Markt Lammert), „Die Wandlungsfähigkeit der Körper“, „Das Interview mit der verbrannten Hand“, „Herzkönigin am Jüngsten Tag“, „Traumwald“ und Ausschnitte aus dem letzten Gespräch vor Heiner Müller Tod: „Episches Theater und postheroisches Management.