Alexander Kluge und Rüdiger Safranski in der Zeitschrift „volltext“ über Friedrich Nietzsche

Ihr sollt Dichter Eures Lebens sein!
Rüdiger Safranski über den „Schauplatz“ Friedrich Nietzsche

ALEXANDER KLUGE: Was bedeutet „Zweikammersystem der Kultur“ bei Nietzsche?
RÜDIGER SAFRANSKI: Den Gedanken der zwei Kammern hat Nietzsche in der Phase entwickelt, in der er Menschliches, Allzumenschliches geschrieben hat. Da verabschiedet er sich zeitweilig von seinem letztlich doch metaphysischem Denken. Er sucht den anderen Zustand. Deswegen entdeckt er das Dionysische. Er liebäugelt mit der Entgrenzung. Die dreifache Grenze soll fallen; einerseits die Grenze nach innen. Da soll eine ekstatische Art möglich sein, mit sich selbst befreundet zu sein. Dann soll die Grenze zum Anderen fallen. Da tauchen Ausdrücke auf wie „Orgiasmus“; das ist die Versöhnung im großen Fest des kollektiven Daseins. Und die Grenze zur Natur soll fallen. Es soll ein ekstatisches Leben als Gesamtkunstwerk möglich sein. Dieses Projekt ist selber ein Erregungszustand des Denkens. Dann bemerkt Nietzsche, dass er gegenüber seinen eigenen Erregungszuständen eine Distanz entwickelt. Er hat mit Richard Wagner Enttäuschungen erlebt in Bayreuth. Das Gesamtkunstwerk Wagner, so wie er es sich vorgestellt hat, funktioniert in Wirklichkeit nicht. Die Menschen, die dort zusammenkommen, wollen nicht durch die Kunst erlöst werden. Die sorgen sich darum, ob sie nach der Aufführung einen guten Platz im Restaurant bekommen. Nietzsche ist enttäuscht. Das zwingt ihn dazu, sich mit seiner eigenen Begeisterung von außen zu sehen. Er fragt sich: Ist das, was ich auf der inneren Bühne erfahre, der Erregungszustand und der abkühlende Blick, vielleicht für die Kultur insgesamt eine Überlebensnotwendigkeit?
KLUGE: Das ist das „Zweikammersystem“. Das eine kühlt ab, das andere erhitzt. So viel Leidenschaft wie möglich, die aber abgekühlt werden muss, damit ein Mensch leben kann.
SAFRANSKI: Wenn es diese Erhitzung durch Obsessionen nicht gibt, kommt es zur erkaltenden Wüste der Langenweile. Gibt es aber die Abkühlung nicht, was gibt es dann? Dann gibt es möglicherweise den Vorgang, dass jemand in seine eigenen Bilder stürzt und an sich selbst verbrennt. Nietzsche wollte nicht an sich selbst verbrennen, obwohl es für ihn auch wiederum eine Option war. Soll man sich von seinem eigenen Denken aufzehren lassen? Oder soll man auf das Prinzip der Selbsterhaltung setzen? Ist es wichtig, sein eigenes Werk, seinen eigenen schöpferischen Moment zu überleben? Als er Also sprach Zarathustra beendete, fragte er sich: Wie lebt man weiter, wenn man ein großes Werk vollendet hat? Erdrückt einen das, was man selber gemacht hat?
KLUGE: „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“, schreibt Nietzsche. Aber was macht man nach der Musik? Ihr Buch heißt: Nietzsche. Biographie seines Denkens. Sein Denken ist sein Leben.
SAFRANSKI: Seine große Leidenschaft war die Musik. Der Zustand, den er beim Musikhören oder Musikphantasieren erreicht, ist das wahre Sein für ihn. Wie lebt man weiter, wenn die Musik vorbei ist? Nietzsche hat den Weg gewählt, mit Begriffen zu musizieren. Das ergab diesen unverwechselbaren Nietzsche-Sound. Wir gehen davon aus, dass es vor allem auf den Wahrheitsgehalt ankommt. Darauf kam es Nietzsche auch an, denn er wollte etwas herausbekommen. Aber mehr noch ging es ihm um den Akt des Denkens, um diesen eigenartigen Zustand der Intensität, bei dem sich eine zweite Dimension der Selbstsichtbarkeit im Medium der Sprache eröffnet. Gegenüber dem normalen Wahrheitskriterium hatte er noch ein inneres Wahrheitskriterium. Er war ein von Schmerzen geplagter Mensch. Ist dieser Gedanke stark genug, sagte er sich, um den Attacken meines Körpers die Waage zu halten? Wenn eine Formulierung, so vitalisierend ist, dass ich den Schmerz aushalten oder vielleicht im Gegenteil sogar den Schmerz integrieren kann, dann muss der Gedanke substanziell sein. So denkt er auch bei der Ewigen Wiederkunft. Es gibt meterweise Sekundärliteratur, die sich damit beschäftigt, ob dieser Gedanke stimmen kann. Nietzsche hat ihn zum Teil kosmisch metaphysisch, sogar naturwissenschaftlich gemeint. Er hat gesagt: Wenn die Zeit unendlich, aber die Summe der vorhandenen Energie begrenzt ist, muss jede denkbare Konstellation schon einmal eingetreten sein.[…]